(bon) Oktober. Ein ganz normaler Nachmittag. Nichts, aber auch wirklich nichts deutete auf das Drama hin, welches zu verhindern es längst zu spät war. Wohlgelaunt betrat ich die Bäckerei im Steintor, mein höflicher Gruß wurde allerdings nur von einer der beiden Verkäuferinnen erwidert. Erste Vorboten der drohenden Katastrophe.
Schon meine Mutter war immer der Meinung, daß ich in puncto Omen-Frühwarnsystem nicht der Beste sei. Die Tragweite dieser Tatsache war mir nie bewußt. Die „nette“ Verkäuferin bediente bereits freundlich eine „Können-Sie-mir-das-Stück-sechzehnteln“ – Dame neben mir, so blieb für mich nur die Introvertierte übrig. Doch keine Hürde, die zu meistern ich nicht in der Lage gewesen wäre. Breit setzte sich ein Lächeln, fast schon engelhaft, in meinem Gesicht fest. Der Stein mir gegenüber blieb fast regungslos.
Ich konnte dort kein Lächeln ausmachen, es sei denn, man nennt es Lachen, wenn ein Zyklop mit einem Baumstamm im einzigen Auge verzweifelte Grimassen zieht. Erschüttert blickte ich auf die Vitrine nieder, nur schwach die geschickt ausgelegten Backwaren erblickend. Sie, im folgenden nur noch Medusa genannt, hatte mir einen schweren Schlag versetzt. Mein Lächeln hatte ihrem gequälten Ausdruck nichts entgegenzusetzen und verpuffte daher unweigerlich im Nichts. Ich nahm einen neuen Anlauf. Man sagt mir nach, ich könne sehr charmant sein. Gefaßt und voller Selbstvertrauen schaute ich auf, süffisant grinsend – nie war es so fehl am Platze.
Medusa hatte gerade den zweiten Baumstamm im einzigen Auge. Erneut knickte ich ein. Mein Gesicht erstarrte fast zur Karnevalsmaske. Jetzt war ich der Gequälte. Nach Luft schnappend erinnerte ich mich meiner eigentlichen Mission, und sagte scharf: „Eine halbe Platte Butterkuchen, bitte!“ . Treffer! Damit hatte sie nicht gerechnet. Leicht betäubt führte Medusa meinen Befehl aus. Gehetzt suchten sich meine Augen das nächste Stuck Kuchen; wenn man am Zug ist, muß man schnell handeln. Laut sog ich die Luft ein – und wäre fast daran erstickt. Medusa sprach! Einem scharfen Schwert gleich kamen ihre Worte gebündelt über den Tresen, bereit alles und jeden niederzumetzeln.
Wieviel wird es denn?“ Ungeduldig wies sie dabei auf eine viel zu kleine Pappe hin, die mit einem Berliner schon 30 % Überbelegung hätte melden müssen. Unwissend zuckte ich mit den Schultern, – und unterschrieb damit ungewollt meine Hinrichtungsurkunde. Auf Medusas Stirn erschienen sieben Haßfalten. Ganz langsam. Ganz tief durch die Spalten schienen sich mir die Höllenpforten aufzutun, schwarze Flammen schossen hervor, gierig zischend auf meine unbescholtene Seele zielend. Ich schlug lang auf den Boden auf, außer mir und des Satans unheilige Tochter war niemand mehr in Sichtweite.
Ich wußte, daß jetzt die allerletzte Möglichkeit – um heile und gesund aus diesem Teufelspfuhl herauszukommen – in der Flucht nach vorne bestand. Es blieb mir nicht mehr viel Zeit. Meine letzten Bewußtseinsfetzen formierten sich zu einem verzweifelten Gedanken. Dankbar setzten ihn meine Stimmbänder in Sprache um. Zehn“ sagte ich, zwar gepreßt, aber erleichtert. Das Schwert des Damokles hatte es noch einmal beim Anritzen meiner Kehle belassen. Triumphierend griff sich Medusa eine Pappe in der Größe eines mittleren Schiffbaubleches und drapierte lustvoll wie Graf Dracula beim Pfählen seiner Untertanen zehn Butterkuchenplatten auf der immer noch zu kleinen Unterlage.
Erschöpft unterschrieb ich den Schuldschein und fand mich unvermittelt auf der Straße. Ausgelaugt, aber lebendig. Zu Hause angelangt, starrte mein Kumpan zuerst auf den Butterkuchen und dann ungläubig auf mich. Aber er sah meine rotgeränderten Augen und verstand. Das Verstehen eines Mannes, der in meinen Augen die Gewalt und Brutalität der Wieviel-wird-es-denn Frage zu entschlüsseln vermochte. Wissend nahm er mich in den Arm.